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Die Reform der italienischen Psychiatrie zwischen
Mythos und Realität, in Betracht auf drei
Hauptfiguren: Giorgio Antonucci, Franco Basaglia und Edelweiss Cotti
von Erveda Sansi
8. Oktober 2017
8. Oktober 2017
Vielen Dank mich zu dieser interessanten BPE Tagung
eingeladen zu haben und die Möglichkeit gegeben, über dieses heikle Thema
sprechen zu können.
Um die Situation der italienischen Psychiatrie besser darzustellen, möchte
ich zunächst etwas zu deren Hintergrund sagen.
Wenn ich mich über den bedauerlichen Zustand der italienischen Psychiatrie
beklage, wundert man sich darüber - hauptsächlich im Ausland, aber auch in
Italien - denn es ist üblich zu denken, dass es in Italien keine psychiatrische
Institutionen mehr gibt, dass die Zwangseinweisungen abgeschafft worden sind,
dass Elektroschock und die mechanische Fixierung der Vergangenheit angehören.
Leider ist es nicht so.
In den 60er Jahren wollten aufgeklärte Menschen
die italienische Psychiatrie einer Reform unterziehen. Franco Basaglia ist
weltweit der erste gewesen, der behauptet hat, man müsse die psychiatrischen
Anstalten endgültig vernichten, weil Gefangenschaft, Fixierung, Elektroschock
und Psychopharmaka keine Therapie sein können und er hat angefangen, dessen
Abbau in Realität umzusetzen. 1961 hatte er die Direktion der Psychiatrischen Klinik von
Gorizia übernommen, nachdem er als Psychiatrieprofessor an der Universität von
Padua gekündigt hatte, weil die Theorien die man dort lehrte falsch seien und
nichts mit dem Zustand der Personen in den psychiatrischen Krankenhäusern zu tun
hätten [1].
In Gorizia begann er, neue Regeln der Organisation und
der Kommunikation innerhalb des Krankenhauses anzuwenden. Er lehnte kategorisch
alle körperlichen Fesselungen und die sogenannten Schocktherapien ab und begann
vor allem aufmerksam auf die Lebensbedingungen der Insassen und deren
Bedürfnisse zu achten. Während der Abteilung - und Vollversammlungen, die von
ihm eingeführt wurden, hatten alle das Recht zu sprechen: das Personal, die
Insassen und auch die Studenten und Journalisten die in dem Moment dort waren.
Das Gemeinschaftsleben der Institution wurde mit Festen, Ausflügen und
Kunstwerkstätten bereichert. Man öffnete die Abteilungstüren und die
Krankenhaustore.
1969 hatte Franco Basaglia Giorgio Antonucci eingeladen,
mit ihm in Gorizia zu arbeiten. Antonucci hatte schon in den frühen 60er Jahren
angefangen, Zwangseinweisungen zu verhindern, anfangs in Florenz als ambulanter
Arzt[2]. Er war damals schon
mit Basaglia in Kontakt. Antonucci berichtet dass Gorizia eine komplexe
Realität war, weil innerhalb derselben Einrichtung verschiedene Positionen
vertreten waren - der Elektroschock wurde zum Beispiel nur für die Männer
abgeschafft und den Frauen immer noch verabreicht - und das nicht nur von den
traditionellen, sondern auch von den sogenannten demokratischen Psychiatern,
wie Giovanni Jerwis.[3]. Ende 60er Jahre verließen Antonucci und Basaglia Gorizia,
wegen Meinungsverschiedenheiten mit der Verwaltung. Basaglia übernahm von 1970
bis 1971 die Direktion der Irrenanstalt von Colorno (Parma) und Antonucci
leitete von 1970 bis 1972 das Zentrum für psychische Gesundheit (CIM) in
Castelnovo ne’Monti (Reggio nell'Emilia), verhinderte weiterhin die Zwangseinweisungen
und half den Menschen durch den Dialog mit ihnen, ihre Probleme zu lösen.
Die Studenten- und Arbeiterbewegungen waren in den 60er und 70er Jahren
kampfbereit. Sie wollten mit eigenen Augen sehen, wie die Insassen in den
Irrenanstalten lebten und nachdem sie die grauenhaften Zustände gesehen hatten,
drängten sie, diese Institutionen zu schließen.
Im Frühjahr 1969 hatte eine Gruppe von Studenten und Arbeiter 35 Tage lang
die Psychiatrische Klinik von Colorno besetzt. Parteien und Gewerkschaften
erklärten den Besetzern und Protestlern ihre Solidarität. In einigen Anstalten
wurden Voll- und Abteilungsversammlungen veranstaltet, an denen auch die
Insassen beteiligt waren. Es wurden kulturelle Produkte hergestellt.
Im November 1970 wollte eine Gruppe von Bürgern, ein Parlamentarier und
Giorgio Antonucci die Irrenanstalt San Lazzaro von Reggio Emilia besuchen, und
trotz dem Versuch des Direktors und den Psychiatern,
ihnen den Zugang zu versperren, konnten sie schließlich eindringen und die
miserablen Zustände der Patienten sehen, um darüber Zeugnis abzulegen und
berichten zu können.
Giorgio Antonucci erzählt, wie sich Franco Basaglia in einem
Fernsehinterview ausgedrückt hatte: „//Wenn es auch in Zukunft immer noch
geschlossene Kliniken und Irrenhäuser geben wird, das ist nicht das Essenzielle.
Das Essentielle ist, dass wir bewiesen haben, dass man es anders machen kann//.
Das Gleiche gilt auch für mich: sie können machen was sie wollen, es ist
trotzdem nicht mehr wie zuvor, als man dachte man könne es nicht anders machen.
Jetzt wissen wir, dass es einen anderen Weg gibt,
mit dem Problem umzugehen: Freiheit statt Zwang. Was
Basaglia getan hat zeigt zuallererst einen anderen Weg, sich mit dem Problem zu
befassen und dass die alte Art und Weise auf falschen theoretischen Prämissen
beruht. Heutzutage äußert man sich über Basaglia nur um Dinge zu sagen, die
vielleicht etwas zu tun haben mit dem, was er gesagt hat, jedoch nichts mit
dem, was er getan hat. Es interessiert mich nicht sehr – und darüber habe ich
die gleiche Meinung wie er – was er gesagt hat, es ist nicht wichtig ob er mit
der Negation der psychischen Krankheit einverstanden war: das Wichtige ist dass
er in die Irrenhäuser hineingegangen ist, wo die Personen in Zwangsjacken oder
in Zellen eingesperrt waren, dass er die Türen geöffnet und die Zwangsjacken
entfernt hat, und mit den Patienten Versammlungen veranstaltet hat. Ich war
dabei als ihm ein Patient während einer Versammlung gesagt hat: // Dass Sie
hier mit uns diskutieren bestätigt dass Sie nicht glauben dass wir psychisch Kranke
sind, denn es wäre für Sie eine Zeitverschwendung//“[4]
Im Jahr 1968 war Giorgio Antonucci mit Edelweiss Cotti in Cividale del
Friuli tätig, in einer offenen Zivilabteilung eines Krankenhauses, es war die
erste italienische Alternative zu den Irrenanstalten. Basaglia
hatte Cotti darüber informiert, dass eine neue neurologische Abteilung eines
Zivilkrankenhauses in Cividale del Friuli geeignet war, um als Alternative zur
psychiatrischen Anstalt verwendet zu werden. Die Abteilung wurde Centro di relazioni umane - Zentrum für menschliche Beziehungen genannt. Edelweiss Cotti war
auch Psychiatrieprofessor, er
hatte seine Lehrtätigkeit aufgegeben,
mit der Begründung dass die Psychiatrie, die an der
Universität gelehrt wird, nicht der
Realität entspricht. Er hatte sich entschieden, momentan Bologna zu verlassen,
wo er „angefangen hatte ein Gebäude einer psychiatrischen Klinik zu
demontieren“[5], und nach Cividale
zu gehen, um diese neue Erfahrung zu versuchen. Er
ist weniger bekannt als Antonucci und Basaglia, weil er weniger schriftliche
Zeugnisse hinterlassen hat, doch er ist einer der ersten in Italien gewesen, der die Situation
zu ändern versuchte und der behauptete, die Geisteskrankheit sei keine echte
Krankheit. Er hatte angefangen mit den Patienten zu
sprechen, sich mit ihnen zu verständigen, um ihnen das zivile Leben
zurückzugeben. Da Antonucci für seine Arbeit, die Zwangseinweisungen von
Menschen zu verhindern, schon bekannt war, bat ihn Cotti, mit ihm nach Cividale
zu gehen. Den gleichen Vorschlag machte er Leopoldo Tesi, einem Arzt, der
bereits in Gorizia mit Basaglia zusammengearbeitet hatte.
Antonucci berichtet, wie sich die Methode dort verändert hatte: „In
Cividale del Friuli war zum Beispiel eine junge Frau, die während der Krisen
den Kopf an die Wand schlug, so habe ich versucht sie ohne Anwendung von Gewalt
zu stoppen, indem ich einfach etwas zwischen ihr und der Wand platzierte.
Einmal, da wir diskutierten als sie sich verletzte, und ich ihr sagte, es
schien mir, dass sie die gleiche Sache in einer anderen Art und Weise zum
Ausdruck bringen könnte, begann ich auch meinen Kopf an die Wand zu schlagen.
Die junge Frau hörte sofort auf und wir konnten die Diskussion fortführen“ [6]
“Wir haben die Arbeit in Cividale nach unseren Kriterien eingerichtet: die
Menschen haben sich nur freiwillig an uns gewandt, man hat sie nicht
aufgefordert, irgendwelche Psychopharmaka zu nehmen, sie waren nicht in
Zwangsjacken eingesperrt und konnten sich in der Stadt frei bewegen“ [7].
„Es war ein offener Ort, wo sie ein- und ausgehen konnten, Tag und Nacht,
wann immer sie wollten. Sie kamen freiwillig, mussten keine Psychopharmaka
schlucken und wurden als gleichwertig angesehen, als Menschen, die Probleme
hatten die man lösen musste. Darum haben wir ihn Centro di relazioni umane - Zentrum
für menschliche Beziehungen genannt“ [8].
Doch es gab Komplikationen und die Abteilung wurde gewaltsam geschlossen. „Unsere Arbeit war tatsächlich in Ordnung, wir waren in
Beziehung zu den Menschen, den Verwandten, den Bürgern, den anderen
Institutionen. Die Arbeit war in Ordnung, aber da unsere Personen in der Stadt
von Cividale del Friuli umherliefen,
wurde der Bürgermeister misstrauisch, und auch wenn nichts negatives passiert
war, wandte er sich an die Regierung und wir wurden mit Gewalt fortgeschickt,
weil wir uns weigerten, unsere Patienten zu verlassen“[9]
Inzwischen fanden Basaglia‘s Bücher„ “Befriedungsverbrechen“, „Die negierte
Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Ein Experiment der
psychiatrischen Klinik in Gorizia“, „Was ist Psychiatrie“? Aufmerksamkeit und
wurden in verschiedene Sprachen, auch auf deutsch übersetzt. Basaglia und seine Arbeit wurden bekannt und er wurde im
In-und Ausland zu Konferenzen eingeladen.
Ein Motto Basaglia’s war: „Keine Form der Institutionalisierung
kann den Kranken helfen, sich selbst zu finden. Die Psychiatrie muss zerstören,
was zwei Jahrhunderte ihre Basis war: das Irrenhaus“. Antonucci ist dagegen davon ausgegangen, dass die
Psychiatrie und vor allem das psychiatrische Vorurteil abgeschafft werden
müssen, dass das Andersdenken keine Krankheit ist, dass man einer Person, die
sich in Schwierigkeit befindet, mit dem Dialog helfen kann ihre Probleme zu
lösen. Er hat auf diese Weise, in mehr als 30 Jahren Tätigkeit, immer jede
Zwangseinweisung vermieden und sich geweigert, jede Zwangsmethode anzuwenden,
Psychopharmaka inbegriffen. Er schreibt: „Die
erste Maßnahme der Psychiatrie besteht darin, den Sinn dessen, was die Person
sagt oder tut, auszuhöhlen, wodurch der Sinn der Person ausgehöhlt wird. Erst
dann wird der Rest erledigt. Der größte Schaden an der Person wird nicht durch
die Irrenanstalt, die psychiatrische Klinik, oder die Krankenhausabteilungen
(SPDC) wo die Menschen jetzt eingewiesen werden, bewirkt. Der Schaden kommt
zuerst und wird durch die Macht, die sich manche Menschen erfassen, den Sinn
des Lebens anderer auszuhöhlen, verursacht. In dem Moment in dem eine Person
von einem Psychiater als krank beurteilt wird, hat alles, was sie sagt oder
denkt, keine Bedeutung mehr.[10]
Indem die Psychiatrie die Bedeutung der Gedanken wegnimmt, nimmt sie den
Personen auch die Verantwortung weg und annulliert sie. Der Mensch, dem die
Sinnproduktion und die
Verantwortlichkeit fortgenommen worden sind, existiert nicht mehr.”[11]“
Ab 1972 übernahm Basaglia die Leitung der Psychiatrischen
Klinik von Triest. Im November 1979 verließ er Triest, - wegen
Meinungsverschiedenheiten mit einigen Mitarbeitern -, und ging nach Rom, wo er
zum Koordinator der psychiatrischen Dienste der Region Lazio ernannt wurde. Im
August 1980 ist er leider gestorben.
Edelweiss Cotti, der inzwischen Direktor der Psychiatrischen Klinik von
Imola geworden war, bat Antonucci dort als Leiter die Demontage der
psychiatrischen Abteilungen fortzuführen. Von
1973 bis 1996 arbeitete Antonucci in Imola in den psychiatrischen Kliniken Osservanza und Luigi Lolli. In den Abteilungen die er führte, entfernte er alle
Zwangsmethoden. Seine Künstlerfreunde halfen ihm die Wände zu bemalen und die
Räume gemütlich einzurichten. Universitätsstudenten aus Bologna und L’Aquila
veranstalteten Musikabende. Diejenigen die noch eine Familie hatten und die sie
bei sich haben wollten, konnten nach Hause gehen. Denen die alleine wohnen
wollten, wurde eine Wohnung zur Verfügung gestellt. Diejenigen die niemand
hatten oder die niemand wollte, konnten in der Abteilung bleiben, diese wurde
eine selbstverwaltete Abteilung. Jeder hatte zwei Schlüssel, einen für den
Haupteingang, der andere für das Zimmer[12].
Das Gesetz Nr. 180 von 1978 nennt man
fälschlicherweise Basaglia-Gesetz, denn es wurde von einem Psychiater und
Abgeordneten der Christlich Demokratischen Partei (Democrazia Cristiana) namens Bruno Orsini, in aller Eile
verfasst. Die
Radikale Partei (Partito Radicale) hatte schon 700.000 Unterschriften gesammelt,
um ein Referendum (Volksabstimmung) einzuführen, mit dem man die Artikel über
die Regelung der Zwangseinweisungen des bestehenden Gesetzes endgültig
abschaffen sollte[13]. Doch für die Gegner, die nicht wollten,
dass die Artikel des Gesetzes, die die Zwangseinweisungen betrafen, durch das
Referendum endgültig abgeschafft wurden, war das Risiko zu groß. Also verfasste der Psychiater Orsini, der das
Referendum verhindern wollte, in aller Eile das Gesetz Nr. 180, (auch wenn das
Gesetz Nr. 833, an dem er als Sekretär des
Gesundheitsministeriums arbeitete und durch das, das öffentliche italienische
Gesundheitswesen eingeführt wurde, und das auch die Reform der psychiatrischen
Einrichtungen vorgesehen hatte, schon fast abgeschlossen war) und man nannte es Basaglia Gesetz.
Offensichtlich hat es mit Basaglia nichts zu tun, oder besser gesagt, es gefiel
Basaglia nicht. In einem Interview das man auf Youtube finden kann, sagt Orsini
dass bei der Erarbeitung dieses Gesetzes die einzigen Schwierigkeiten
tatsächlich die Diskussionen mit Basaglia waren, der mit den Artikeln, die die
Zwangseinweisungen regeln und die die Einsetzung der Psychiatrieabteilungen in
den Krankenhäusern bestimmen, nicht einverstanden war[14]. Doch Orsini hatte andere Ansichten und
binnen zwei Monaten, im Mai 1978, war das Gesetz, das die Zwangseinweisungen
noch heute ermöglicht, schon erlassen, während das Gesundheitswesen
Reformgesetz Nr. 833, im Dezember erlassen wurde.
Roberto von der Patienten
Selbsthilfe-Organisation C.A.R.M. (Komitee gegen die Aufnahme ins
Irrehaus) aus Rom sagt in einem Interview in den 80er Jahren: „...wenn du sie
jetzt auf einem Kongress von der Psichiatria Democratica (Demokratische
Psychiatrie) hörst, dann sprechen sie nur über ihre eigenen Probleme und
Interessen. Wenn du in irgendeine psychiatrische
Krankenhausstation (Cim) gehst, dann
kannst du sie sehen, wie sie ständig unter sich Versammlungen machen und
sprechen, sprechen, sprechen. Aber niemals haben wir einen Psychoarbeiter
getroffen, der mit uns ernsthaft sich unterhalten wollte, oder mit uns kämpfen
wollte. Nun, die Wahrheit ist, dass die Psychoarbeiter aufhören müssen, für uns
zu handeln; sie müssen auch uns einen Freiraum lassen
und uns akzeptieren, wie wir sind“[15]
1978 waren 100.000 italienische Bürger in ungefähr hundert Psychiatrischen Kliniken eingesperrt. Das
neue Gesetz verordnete, dass niemand mehr in diese Anstalten eingesperrt werden
sollte und dekretierte, dass neue Einweisungen in besondere Krankenhausabteilungen erfolgt werden mussten. Die
meisten dieser Abteilungen sind heute geschlossene Abteilungen. Der Gesetzestext
sagte hingegen nichts über die Leute die in den
Psychiatrischen Anstalten eingesperrt waren, als das Gesetz genehmigt wurde.
Ende 1994 reduzierten sich die Insassen auf 26.000, denn die meisten waren
inzwischen gestorben; nur etwa 6.000 von ihnen wurde von den Familien oder
Verwandten aufgenommen. So hat der Senator Edo Ronchi eine Änderung des
Finanzgesetzes vorgeschlagen, das die Auflösung dieser Horroreinrichtengen
binnen Ende 1996 dekretierte. Wieder ignoriert, wurde es bis Ende 1999
aufgeschoben. Die Psychiatrischen Anstalten wurden
geschlossen, weil sie für den Staat zu teuer waren und weil die Regionen eine
Geldbuße bezahlen mussten, falls sie diese gesetzliche Verpflichtung nicht erfüllt
hätten. In den 90er Jahren sind mehr als 30 Inspektionen
von Aktivisten, Parlamentarier und Journalisten gemacht worden, die die sehr
schlechten, unmenschlichen Zustände in diesen Anstalten feststellen konnten. 1996
konnte man noch 11.516 Insassen in 62 öffentlichen und 4,752 in privaten
Anstalten zählen.[16]
Der letzte offizielle Bericht der italienischen Psychiatrie (Rapporto sulla salute mentale)[17] informiert über das Jahr 2015, dass die
Zwangseinweisungen 8.777 waren, für ein Total von 100.271 psychiatrische
Krankenhauseinweisungen. Doch sollte man die meisten freiwilligen
Krankenhausaufenthalte zu den Zwangseinweisungen zählen, denn es ist üblich dass freiwillige
Psychiatriepatienten bedroht werden, die freiwillige
Einweisung in eine Zwangseinweisung zu verwandeln, sobald sie wieder entlassen
werden wollen. Umgekehrt verwandelt man die Zwangseinweisungen in
freiwillige, sobald der Patient mit Gewalt ins Krankenhaus gebracht worden ist,
denn für die Statistik werden nicht die Einweisungen gezählt, sondern die
Entlassungen.
Die Zwangsbehandlung dauert nach Gesetz
sieben Tage, doch kann sie jeweils um sieben
Tage verlängert werden, normalerweise bis der Patient so vollgestopft und
abhängig von Psychopharmaka ist, dass er kaum noch reagieren kann. Dann wird er
in eine therapeutische Wohngemeinschaft umgesiedelt und dort bleibt er manchmal
jahrelang, mit dem Unterschied zu den alten Anstalten, dass diese reine,
goldene Käfige sind, doch die sogenannte Therapie besteht meistens nur aus
Psychopharmaka, fast immer Depot, und es geschieht auch dass die Patienten ans
Bett gebunden und misshandelt werden [18].
Mit der Schließung der
Psychiatrischen Krankenhäuser wurde ein Umbruch vollzogen, der zur Entstehung
einer Reihe von kleinen Strukturen geführt hat, die zur Aufnahme von alten und
neuen Patienten zuständig sind. Das sind Familienhäuser, psychische
Gesundheitszentren (CSM), Tageszentren, Krankenhausabteilungen, therapeutische
Gemeinschaften, usw., in denen weiterhin die Etikettierung „geisteskrank“
sowohl die Zwangsmethoden sich fortsetzen.
Diese Strukturen sind private
Einrichtungen, die von dem Staatlichen Gesundheitssystem bezahlt werden. Oft
stellt es ein überaus profitables Geschäft dar.
Der Patient kann nach der
Krankenhausentlassung nach Hause gehen, meistens nur nach Verabreichung von Depot –Neuroleptika und
der Verpflichtung sich regelmäßig der Spritze zu unterziehen. Wenn er sich
nicht freiwillig zur ambulanten Behandlung, das heißt zur Depot Spritze begibt,
wird gewöhnlich ein ASO angeordnet. ASO ist das Akronym für Accertamento Sanitario Obbligatorio - Obligatorische Gesundheitsuntersuchung:
das Gesetz sagt dass ein Arzt, um die Gesundheit eines Patienten zu ermitteln,
eine obligatorische Gesundheitsuntersuchung anordnen kann. Diese wird wenn
dringend in 24/48 Stunden durchgeführt, wenn normal innerhalb einer Woche. Wenn
der Patient sich während des ASO nicht
freiwillig der Depotspritze unterzieht, kommt es zur Zwangseinweisung. Die
Zwangseinweisung heißt Trattamento
Sanitario Obbligatorio.
Darüber hinaus treten mehr als 50% der Personen die einer Zwangseinweisung
unterzogen worden sind, in einen sich wiederholenden, kurzen oder mittleren
Zyklus hinein, so dass mehr als die Hälfte von ihnen lebenslange psychiatrische
Patienten werden. Die Zwangseinweisung ist ein in der Substanz unverändert
gebliebenes Wegsperren in die psychiatrische Anstalt.
So können wir seit einigen Jahren in Italien wieder eine Institutionalisierung beobachten und im allgemeinen eine
Verschlechterung mit wenigen Ausnahmen. In manchen Psychiatrie - Abteilungen
der Krankenhäuser ereignen sich viele bedauerliche Ereignisse, aufgrund der
Zwangsbehandlungen und Zwangseinweisungen. In Italien wurden durch die Presse,
dem Fernsehen und dem Netzwerk einige Todesfälle bekannt, die sich nach oder
während den Zwangseinweisungen ereignet haben, (dies bedeutet, dass es viele
andere solche "Zwischenfälle" gibt, die die Medien nicht bekannt
gemacht haben).
Nur wenige Todesfälle und Missbräuche die während
oder nach den Zwangseinweisungen stattfinden, sind öffentlich geworden
und werden von den Medien mitgeteilt, doch wenn Komitees,
Freunde und Angehörige Gerechtigkeit fordern, kommen sie zur Öffentlichkeit.
Wie z.B. der Franco Mastrogiovanni Fall, wovon die Medien berichten, weil das Franco
Mastrogiovanni Komitee, die Freunde und die Familie viele
öffentliche Veranstaltungen organisiert haben. Franco Mastrogiovanni, ein von
seinen Schülern geliebten Lehrer, ist nach einer Zwangseinweisung, und nachdem
er 87 Stunden ans Bett geschnallt worden war, gestorben. Costanza Quadriglio[19]
hat einen Dokumentarfilm darüber gedreht. Die Überwachungskameras, die in
dieser Abteilung installiert worden waren, haben die seine 87 Stunden lange
Qual und seinen Tod gezeigt.
Nach dem Gesetz nr. 180, sind Zwangsbehandlungen und Zwangseinweisungen
möglich, wenn die folgenden Bedingungen respektiert werden: 1) man erfordert
dringende medizinische Behandlung für eine geisteskranke Person; 2) die
Behandlung wird von dieser Person verweigert; 3) es ist nicht möglich, außerhalb
des Krankenhauses angemessene Maßnahmen zu ergreifen. Zwangsbehandlungen haben
eine Höchstdauer von sieben Tagen, können aber bei Bedarf erneuert und dann
verlängert werden, wenn eine begründete klinische Notwendigkeit besteht. Für
eine Zwangsbehandlung und die damit verbundene Begrenzung der persönlichen
Freiheit, muss ein Antrag von zwei Ärzten unterzeichnet werden, eine
administrative Validierung des Bürgermeisters ist erforderlich, gefolgt von der
Validierung einer gerichtlichen Überprüfung durch den Schutzrichter.
Die Gesetzgebung der Zwangsbehandlung
bietet genügend Spielraum für Willkür und steht in starkem Gegensatz zu den
Menschenrechtsverordnungen, die darauf abzielen, auch Menschen mit
psychosozialen Behinderungen vor unmenschlichen und erniedrigenden Behandlungen
zu bewahren. Für diejenigen, die ein Verbrechen begehen, wird erwartet, dass
die Justizbehörde innerhalb bestimmter spezifischer Verfahrensregeln Sanktionen
verhängt oder restriktive Maßnahmen erhebt.
Wir beschäftigen uns ständig mit unschuldigen Menschen in der erzwungenen
psychiatrischen Behandlung, die keinen Ausweg mehr aus der psychiatrischen
Institution finden.
"Ich muss gestehen", hat mir ein Psychiater anvertraut,
"Einen Menschen ganz in meiner Macht zu haben, lässt mich eine Art
sadistischer Schauer fühlen"
Giorgio Antonucci, I
pregiudizi e la conoscenza critica alla psichiatria (prefazione di Thomas S.
Szasz), ed. Coop. Apache, 1986;
Giorgio Antonucci,
Il pregiudizio psichiatrico, Elèuthera, 1989;
Giorgio Antonucci,
La nave del paradiso, Spirali, 1990;
Giorgio Antonucci,
Critica al giudizio psichiatrico, Sensibili alle Foglie, 1994;
Giorgio Antonucci,
Pensieri sul suicidio, Elèuthera, 1996;
Giorgio Antonucci,
Il pregiudizio psichiatrico, Elèuthera, 1998;
Giorgio Antonucci,
Le lezioni della mia vita. La medicina, la psichiatria, le istituzioni,
Spirali, 1999;
Giorgio Antonucci, Diario
dal manicomio. Ricordi e pensieri, Spirali, 2006;
Giorgio Antonucci, “Intervento psichiatrico e TSO”, in La libertà sospesa, Fefè editore, Roma,
2012, pp. 125-136;(contributo di Giorgio Antonucci e Ruggero Chinaglia)
Dacia Maraini;
La grande festa. Milano, Rizzoli, 2011
Conversazione con
Giorgio Antonucci a cura di Erveda Sansi. Critical Book - I quaderni dei
saperi critici – Milano, S.p.A Leoncavallo, 2010;
http://www.ilcappellaiomatto.org/2015/08/conversazione-con-giorgio-antonucci.html;
*
Edelweiss Cotti, Roberto Vigevani, Contro la psichiatria, La Nuova Italia ed.,
1970;
Edelweiss Cotti, in Psicologia, psichiatria e rapporti di
potere, Editori Riuniti – Istituto Gramsci, 1971, p. 83 -88;
Un antipsichiatra: Edelweiss Cotti, Collettivo
Progetto Memoria, Progetto Memoria n. 15, 1994, https://www.carmillaonline.com/2003/09/05/un-antipsichiatra-edelweis-cotti/
*
Franco
Basaglia: Die negierte Institution oder
die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Ein Experiment der psychiatrischen
Klinik in Görz, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971;
Franco Basaglia
(Hrsg.): Was ist Psychiatrie?,
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974
Franco Basaglia
(Hrsg.): Befriedungsverbrechen: über die
Dienstbarkeit der Intellektuellen, Frankfurt a. M.: Europ. Verl.-Anst.,
1980
*
Mindestfilmographie:
„Se mi ascolti e mi credi.
Docu-film sulla vita di Giorgio Antonucci“: https://www.facebook.com/semiascoltiemicredi.docufilm/
„Se mi ascolti e mi credi.
Docu-film sulla vita di Giorgio Antonucci“: http://www.raistoria.rai.it/articoli/se-mi-ascolti-mi-credi/38025/default.aspx
Interview / Intervista – Giorgio
Antonucci by Saverio Tommasi 1/8.flv; http://www.ilcappellaiomatto.org/2012/03/interview-giorgio-antonucci-by-saverio.html
*
I giardini di Abele, regia di Sergio Zavoli,
https://www.youtube.com/watch?v=vpWbAwi95T0
[1] Maurizio
Costanzo intervista Franco Basaglia,
https://www.youtube.com/watch?v=j_7yv5rTiQo,
abgerufen am 30. September 2017;
[2] Scarceranda
– Trent’anni di Legge 180 – a colloquio con Giorgio Antonucci e Maria D’Oronzo;
https://centro-relazioni-umane.antipsichiatria-bologna.net/2008/12/03/scarceranda-trentanni-di-legge-180-a-colloquio-con-giorgio-antonucci-e-maria-rosaria-doronzo/
abgerufen am 30. September 2017;
[3] Intervista
a cura di Ezio Catacchio (Associazione “Altre Ragioni” - Bari) Francesco De
Martino (Quotidiano di Bari); http://www.giannimassanzana.it/node/13; abgerufen am 29. September 2017;
[4] “Giorgio Antonucci parla di Franco Basaglia ed il falso della 180” https://www.youtube.com/watch?v=DflmkXJn8sM , abgerufen am 29. September 2017;
[5] Giorgio
Antonucci, Critica al giudizio
psichiatrico, Sensibili alle foglie, p.47;
[6] Intervista a Giorgio Antonucci su
l’antipsichiatria di Clarissa Brigidi:
http://centro-relazioni-umane.antipsichiatria-bologna.net/2008/08/05/intervista-a-giorgio-antonucci-su-lantipsichiatria-tesi-di-laurea-di-clarissa-brigidi-in-filosofia-della-
storia/; abgerufen am 29. September 2017;
[7] Moreno
Paolon, in: “Psichiatria e potere – intervista a Giorgio Antonucci”, http://www.arivista.org/?nr=408&pag=88.htm; abgerufen am 29. September 2017;
[8] Ibid.
[9] Giuseppe
Gozzini, Esercizi di memoria – il ‘68 visto dal basso – sussidio didattico
per chi non c’era, ed. Asterios, p. 259, https://centro-relazioni-umane.antipsichiatria-bologna.net/2008/12/21/giuseppe-gozzini-esercizi-di-memoria-il-68-visto-dal-basso-sussidio-didattico-per-chi-non-cera-ed-asterios/ ; abgerufen am 25. September 2017;
[10] Giorgio
Antonucci, Critica al giudizio psichiatrico – Introduzione alla seconda
edizione, Sensibili alle foglie, 2005, pag. 12
[11] Ivi. p. 13
[12] Alberto
Cavallini, Laura Mileto, Se mi ascolti e mi credi. Docu-film sulla vita di
Giorgio Antonucci,
http://www.raistoria.rai.it/articoli/se-mi-ascolti-mi-credi/38025/default.aspx, abgerufen am 25. September 2017;
[13] Josef Zehentbauer (herausgegeben), Die Aulösung der
Irrenhäuser oder:
die neue Psychiatrie in Italien, Zenit Verl., 1999, p. 272, (erste Ausgabe.
1983 in
Verlag der Arbeitsgruppe Psychologie München);
[14] Bruno
Orsini - Come nacque la legge Basaglia: https://www.youtube.com/watch?v=Grkk8osV-24&t=1s, abgerufen am 25. September 2017;
[15] Josef Zehentbauer (herausgegeben), op. cit. p. 272,
[16] Cfr.
Roberto Cestari, L’inganno psichiatrico, Lib&Res, 2012, I° ed.
Sensibili alle foglie, 1993;
[17] http://www.salute.gov.it/imgs/C_17_pubblicazioni_2550_allegato.pdf
, abgerufen am 30. September 2017
[18] Nicola
Valentino, Istituzioni post-manicomiali, Sensibili alle foglie;
[19] 87 ore official trailer: https://www.youtube.com/watch?v=Qvlq-M9WGms, abgerufen am 30. September
2017
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